Die Systematik der gesetzlichen Sozialversicherung

Beitragsverfahren

Der Säumniszuschlag in der gesetzlichen Sozialversicherung

Der Säumniszuschlag

Leitsatz
  1. Der Säumniszuschlag ist für den Fall der verspäteten Zahlung eines Sozialversicherungs­beitrags kraft Gesetzes mit dem ersten Tag der Säumnis zu erheben.

Bei dem in § 24 SGB IV für alle Zweige der gesetzlichen Sozialversicherung geregelten Säumnis­zu­schlag handelt es sich um eine zusätzliche Abgabe, die von dem festsetzenden Sozialversicherungs­träger kraft Gesetzes für den Fall der verspäteten Zahlung eines Sozialversicherungsbeitrags mit dem ersten Tag der Säumnis zu erheben ist.

Die Erhebung von Säumniszuschlägen bei verspäteter Zahlung von Gesamtsozialversicherungsbeiträ­gen durch den Arbeitgeber betrifft ausschließlich die Aufgabenbereiche der Einzugsstellen im Rahmen des Beitragseinzugs und der Rentenversicherungsträger im Rahmen der Betriebsprüfung.

Erhebung des Säumniszuschlags durch die Einzugsstelle

Erhebung des Säumniszuschlags im Rahmen einer Betriebsprüfung

Die erhobenen Säumniszuschläge stehen allen am Gesamtsozialversicherungsbeitrag beteiligten Ver­sicherungsträgern zu. Sie werden entsprechend dem Anteil des einzelnen Versicherungsträgers am Ge­samt­sozialversicherungsbeitrag aufgeteilt.

☆ ☆ ☆
Sinn und Zweck des Säumniszuschlags

Die Erhebung von Säumniszuschlägen sanktioniert die verspätete Beitragszahlung, indem durch die säumnisbedingte Erhöhung des Zahlbetrages – ähnlich einem Zwangsgeld – einerseits zur Sicherung ei­nes geordneten Verwaltungsablaufs und der Beschaffung der hierfür benötigten Finanzmittel Druck auf den Schuldner ausgeübt wird, andererseits aber auch ein standardisierter Mindestschadensaus­gleich für den durch die Nichtzahlung eingetretenen Zinsverlust und Verwaltungsaufwand vorgenom­men wird. Damit soll sichergestellt werden, dass die Sozialversicherungsträger die entstandenen Bei­träge zum Fälligkeitstermin auch tatsächlich zur Erfüllung ihrer Leistungspflichten zur Verfügung haben. Zu­dem soll ausgeschlossen werden, dass sich der Beitragsschuldner durch rechtswidriges Ver­halten ein ›zinsloses‹ Darlehn verschafft oder durch eine verspätete Beitragszahlung selbst einen Zins­vorteil erlangt.

Berechnung der Sozialversicherungsbeiträge → Der Beitragsschuldner

In dieser ›Doppelfunktion‹ dient der Säumniszuschlag der Funktionsfähigkeit und der finanziellen Sta­bilität der Sozialversicherung. Die doppelte Zwecksetzung der Säumniszuschläge, den Schuldner un­ter Druck zu setzen und zugleich einen standartisierten Mindestschadensausgleich zu bewirken, ist nicht unverhältnismäßig und unterliegt daher keinen verfassungsrechtlichen Problemen.

☆ ☆ ☆
Höhe des Säumniszuschlags

Nach § 24 Abs.1 SGB IV ist für Beiträge und Beitragsvorschüsse, die der Zahlungspflichtige nicht bis zum Ablauf des Fälligkeitstages gezahlt hat, für jeden angefangenen Monat der Säumnis ein Säum­niszuschlag von 1 Prozent des rückständigen, auf 50,00 Euro nach unten abgerundeten Betrages zu zahlen.

Nach dem Wortlaut des § 24 Abs. 1 Satz 1 SGB IV ist der Säumniszuschlag nicht für »einen Beitrag« oder für »einen auf 50,00 Euro nach unten abgerundeten rückständigen Beitrag« zu erheben. Vielmehr wird an unbestimmt viele ›Beiträge‹ und ›Beitragsvorschüsse‹ angeknüpft. Dem Sozialver­siche­rungs­träger steht es somit nicht frei, rückständige Beiträge unterschiedlicher Fälligkeit ohne vorherige Addition jeweils gesondert abzurunden. Bei der Berechnung von Säumniszuschlägen sind alle Beiträge und Beitragsvorschüsse, die der Zahlungspflichtige bis zum Ablauf des Fälligkeitstages nicht gezahlt hat, zu addieren, bevor der sich daraus ergebende rückständige Gesamtbetrag auf 50,00 Euro nach unten abgerundet wird. Liegt der sich durch die Addition aller rückständigen Beiträge und Bei­trags­vorschüsse ergebende Betrag bei 50,00 Euro oder darüber, sind für diesen auf 50,00 Euro abge­run­deten Beitragsrückstand für jeden angefangenen Monat der Säumnis Säumniszuschläge zu erheben.

›Bagatell‐Säumniszuschläge‹

Bei einem rückständigen Betrag unter 100,00 Euro ist der Säumniszuschlag nicht zu erheben, wenn dieser gesondert schriftlich anzufordern wäre.

Es handelt sich hierbei um einen einzelnen Säumniszuschlag in Höhe von 0,50 Euro, der ohne weitere Forderungen nicht gesondert schriftlich anzufordern ist, da die Portokosten die Höhe des Säumnis­zuschlages überschreiten würden. Derartige Fälle können auftreten, wenn ein einzelner Pflichtbeitrag verspätet gezahlt wird. Fallen jedoch keine gesonderten Portokosten an, zum Beispiel weil gleichzeitig weitere Forderungen zu erheben sind, ist der Säumniszuschlag auch bei einem entsprechend geringen Rückstand zu erheben.

☆ ☆ ☆
Säumniszuschlag für freiwillig Versicherte

Nach § 24 Abs. 1a SGB IV in der ab dem 1. April 2007 geltenden Fassung haben – abweichend zu § 24 Abs. 1 SGB IV – ›freiwillig‹ bei einer gesetzlichen Krankenkasse versicherte Personen für Beiträge und Bei­tragsvorschüsse, mit denen sie länger als einen Monat säumig sind, für jeden weiteren ange­fangenen Monat der Säumnis einen Säumniszuschlag von 5 Prozent zu zahlen.

Die Tatsache, dass freiwillig Versicherte einen höhe­ren Säumniszuschlag als andere Zahlungspflichtige zu zahlen haben, verstößt nach Auffassung des Bundesozialgerichts nicht gegen höherrangiges Recht; insbesondere stellt dies keinen Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG dar.

☆ ☆ ☆
Säumniszuschlag für Beiträge zur gesetzlichen UV

Die Regelungen zum Säumniszuschlag nach § 24 Abs. 1 SGB IV gelten auch für die gesetzliche Unfallversicherung. Für die Erhebung und Berechnung der Säumniszuschläge die besondere Fälligkeit der Beiträge zur Unfallversicherung zu beachten.

Fälligkeit der Beitragszahlung → Fälligkeit der Beiträge zur gesetzlichen UV

SVMWIndex k6s8a1

Erhebung des Säumniszuschlags durch die Einzugsstelle

Leitsätze
  1. Der Beginn der Säumniszuschlagsberechnung steht unmittelbar im Zusammenhang mit den zu erhebenden Beiträgen und deren Fälligkeit.

  2. Maßgebend ist hierbei der Zeitpunkt des Geldeingangs.

Die Einzugsstellen sind gesetzlich dazu verpflichtet, die Beiträge vollständig zu erheben und arbeits­täglich abzuführen. Soweit die fälligen Beiträge nicht pünktlich gezahlt werden, bestimmt der § 24 Abs.1 SGB IV, dass die Einzugsstelle einen Säumniszuschlag zu erheben hat.

Der Beginn der Säumniszuschlagsberechnung steht unmittelbar im Zusammenhang mit den zu erhe­benden Beiträgen und deren Fälligkeit. Nach § 22 Abs.1 Satz 1 SGB IV entstehen die Beitragsan­sprüche der Versicherungsträger, sobald ihre im Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes bestimmten Vor­aus­setzungen vorliegen. Der maßgebliche Fälligkeitstag ergibt sich aus § 23 SGB IV.

Ansprüche auf Säumniszuschläge entstehen grundsätzlich für alle Beiträge und Beitragsvor­schüsse, die nach Ablauf des Fälligkeitstages gezahlt werden und somit säumig sind. Der § 23 SGB IV kennt innerhalb eines Kalendermonats nur noch einen Fälligkeitstag. Sofern in der Satzung der Krankenkasse kein früherer Fälligkeitstermin festgelegt ist, sind die Gesamtsozialver­sicherungsbeiträge in voraus­sicht­licher Höhe der Beitragsschuld bis spätestens am drittletzten Bank­arbeitstag des Monats fällig, in dem die Beschäftigung ausgeübt wird.

Maßgebend ist hierbei der Zeitpunkt des Geldeingangs, nicht z. B. der Auftragserteilung an die Bank. Der Beitrag und die Umlagebeträge müssen folglich am Fälligkeitstag dem Konto der Einzugs­stelle bereits gutgeschrieben sein. Zahlt der Arbeitgeber einen Teilbeitrag, berechnet sich der Säum­nis­zu­schlag von dem nicht zum Fälligkeitstermin gezahlten Teil.

Fälligkeit der Beitragszahlung → Fälligkeitstermin für die Beitragszahlung

Ist das tatsächliche Entgelt am Fälligkeitstag nicht bekannt, sind Beiträge in Höhe der voraussichtlichen Höhe der Beitragsschuld fällig. Ein verbleibender Rest wird zum drittletzten Bankarbeitstag des Folge­monats fällig. Eine Differenz zwischen der voraussichtlichen Beitragsschuld und dem später festste­henden tatsächlichen Beitragssoll führt nicht zu einer Erhebung von Säumniszuschlägen. Diese werden nur erhoben, wenn die voraussichtliche Höhe der Beitragsschuld schuldhaft zu gering bemessen wurde. Zahlt der Arbeitgeber nur einen Teilbeitrag, berechnet sich der Säumniszuschlag von dem nicht zum Fälligkeitstermin gezahlten Beitragsteil.

Beitragsbemessungsgrundlage → Bestimmung der voraussichtlichen Höhe der Beitragsschuld

Säumniszuschläge im Rahmen einer Betriebsprüfung → Bestimmung der voraussichtlichen Höhe der Beitragsschuld

Keine Ermessensentscheidung

Seit 1. Januar 1995 steht die Erhebung des Säumniszuschlags nicht mehr im Ermessen des Ver­si­che­rungsträgers, sondern die Säumniszuschläge sind bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen kraft Gesetzes zu erheben.

☆ ☆ ☆
Erlass von Säumniszuschlägen

Der § 24 SGB IV enthält keine Bestimmung, wonach Säumniszuschläge niedergeschlagen oder erlas­sen werden können. Da die Erhebung eines Säumniszuschlags nicht in das Ermessen der Einzugsstelle gestellt ist, bestand die Notwendigkeit, zumindest für gewisse Ausnahmefälle die Möglichkeit für einen Erlass von Säumnis­zuschlägen zu schaffen. Dies wurde mit der Neufassung des § 76 Abs. 2 Nr. 3 SGB IV erreicht.

In Ausnahmefällen können Säumniszuschläge auf Antrag des Arbeitgebers erlassen werden, wenn de­ren Einziehung nach Lage des Einzelfalls unbillig wäre.

Erlass von Beitragsansprüchen → Unbilligkeit

☆ ☆ ☆
Säumniszuschläge aus einer Betriebsprüfung

Ein etwaiger Erlass der Säumniszuschläge setzt die Unanfechtbarkeit des Beitragsbescheides voraus. Zuständig für die Prüfung des Erlassantrages ist nicht der Rentenversicherungsträger, sondern die je­weilige Einzugsstelle. In Fällen, in denen im Rahmen einer Betriebsprüfung nach § 28p Abs.1 SGB IV Säumniszuschläge erhoben wurden, kann der Arbeitgeber dabei regelmäßig nicht ein ›offenbares Ver­sehen‹ geltend machen. Zudem schließt die Nichtzahlung von geschuldeten Beiträgen über einen län­ge­ren Zeitraum eine Bewertung als ›bisher pünktlicher Beitragszahler‹ aus.

SVMWIndex k6s8a2

Erhebung des Säumniszuschlags im Rahmen einer Betriebsprüfung

Leitsatz
  1. Die Erhebung von Säumniszuschlägen im Rahmen einer Betriebsprüfung ist grundsätzlich unmittelbar gekoppelt an eine vorher festgestellte Beitragsnachforderung.

Nach § 28p Abs. 1 SGB IV prüfen die Träger der Rentenversicherung bei den Arbeitgebern, ob diese ihre Meldepflichten und ihre sonstigen Pflichten nach dem SGB IV, die im Zusammenhang mit dem Gesamt­sozialversicherungsbeitrag stehen, ordnungsgemäß erfüllen; sie prüfen insbesondere die Richtig­keit der Beitragszahlungen und der Meldungen mindestens alle vier Jahre.

Prüfung des Gesamtsozialversicherungsbeitrags → Prüfungsanlass

Die Erhebung von Säumniszuschlägen im Rahmen einer Betriebsprüfung ist grundsätzlich unmittelbar gekoppelt an eine vorher festgestellte Beitragsnachforderung. Ohne eine konkrete Beitragsnachforde­rung werden Säumniszuschläge dann erhoben, wenn der Arbeitgeber z. B. die Ermittlung der voraus­sichtlichen Beitragsschuld im Sinne des § 23 SGB IV zunächst nicht gewissenhaft vorge­nommen hat, er aber den fälligen Gesamtsozialversicherungsbeitrag mit zeitlicher Verzögerung doch noch nach­ge­wie­sen hat. Gleiches gilt, wenn die Auswertung eines Lohnsteuerhaftungsbescheides nicht innerhalb von 3 Monaten nach dessen Rechtskraft vorgenommen worden ist.

Bestimmung der voraussichtlichen Höhe der Beitragsschuld

Auswertung eines Lohnsteuerhaftungsbescheides

Die Entstehung und Fälligkeit des Beitragsanspruchs einer im Rahmen einer Betriebsprüfung nach § 28p Abs. 1 SGB IV festgestellten Beitragsnachforderung führt zwar regelmäßig zur Säumnis im Sinne des § 24 Abs. 1 SGB IV, jedoch nicht zwangsläufig zu einem Anspruch auf den Säumniszuschlag.

›Unverschuldete Unkenntnis‹ von der Zahlungspflicht

Die Erhebung des Säumniszuschlags steht nicht im Ermessen des Rentenversicherungsträgers. Der Ren­tenversicherungsträger hat grundsätzlich für jede festgestellte Beitragsnachforderung eine kon­kret‐individuelle Betrachtung aller Umstände vorzunehmen.

Säumniszuschläge sind nach § 24 Abs. 2 SGB IV dann nicht zu erheben, wenn eine Beitragsforderung (durch Bescheid) mit Wirkung für die Vergangenheit festgestellt und der Arbeitgeber glaubhaft macht, dass er unverschuldet keine Kenntnis von der Zahlungspflicht hatte. Allein das Fehlen der Kenntnis von der Beitragszahlungspflicht steht der Festsetzung von Säumniszuschlägen damit noch nicht entge­gen. Vielmehr sind Säumniszuschläge nur dann nicht zu erheben, wenn die Unkenntnis unverschuldet ist.

Erhebung von Säumniszuschlägen

Keine Säumniszuschlagserhebung
kumulierte Voraussetzungen

↓ ↓

Unkenntnis
des Arbeitgebers von der Zahlungspflicht

Unverschulden
des Arbeitgebers über die Unkenntnis

Unverschuldete Unkenntnis von der Zahlungspflicht
  • Die unverschuldete Unkenntnis von der Zahlungspflicht muss ununterbrochen bis zur Fest­setzung der nachzuzahlenden Beiträge durch Beitragsbescheid bestanden haben.

Zweck dieser ›Ausnahmeregelung‹ ist, die ab 1. Januar 1995 durch die Verschärfung insbesondere aufgrund der Schaffung einer nunmehr gebundenen – statt wie zuvor von Ermessenserwägungen ge­leiteten – Entscheidung des Versicherungsträgers möglich gewordene Erhebung von Säumniszuschlä­gen in unbilligen Härtefällen auszuschließen.

Glaubhaftmachung

Während ›Kenntnis‹ nach seinem Wortsinn das Wissen von einer Tatsache bedeutet, ist dem Begriff der ›Zahlungspflicht‹ über das Wissen der sie begründenden Tatsachen hinaus eine rechtliche Wertung im Sinne des Erkennens einer konkreten Verhaltensanforderung immanent. Die Säumniszuschläge aus­lö­sen­de Kenntnis von der Beitragspflicht liegt vor, wenn der Arbeitgeber die seine Beitragsschuld be­grün­den­den Tatsachen kennt und zumindest als Parallelwertung in der Laiensphäre nachvollzieht, dass eine Beschäftigung vorliegt, die Beitragspflicht nach sich zieht.

Die Glaubhaftmachung unterliegt nicht der strengen Formvorschrift des Beweises. Glaubhaft gemacht ist eine Tatsache dann, wenn sie unter Berücksichtigung des tatsächlichen und rechtlichen Erkenntnis­vermögens des Arbeitgebers selbst oder einer für ihn verantwortlich handelnden Person als wahr­scheinlich erscheint. Es ist also individuell auf den potentiellen Wissens‑ und Kenntnisstand dieser Person abzustellen. Zur Erhebung von Säumniszuschlägen kommt man nur dann, wenn dieses Nicht­wissen bei Betrachtung der vorgetragenen Umstände und des allgemeinen Ausbildungs‑ und Kennt­nisstandes der Person tatsächlich auch unwahrscheinlich, also nicht glaubhaft ist. Ist das der Fall, ist der Weg für die Erhebung von Säumniszuschlägen eröffnet.

§ 24 Abs. 2 ist als ›Ausnahme‹ von der allgemeinen Erhebung von Säumniszuschlägen ausgestaltet, so dass derjenige beweispflichtig ist, der sich auf die rechtsbegründenden Tatsachen der ›Ausnahme‹ beruft. Dabei genügt der abgesenkte Beweisgrad der Glaubhaftmachung. Für die ›unverschuldete Unkenntnis‹ von der Zahlungspflicht trägt der Arbeitgeber die objektive Beweislast.

SVMWIndex k6s8a3

Verschuldensprüfung

Leitsätze
  1. Die Säumniszuschläge auslösende Kenntnis von der Beitragspflicht liegt vor, wenn der Arbeitgeber die seine Beitragsschuld begründenden Tatsachen kennt und zumindest als Pa­ra­llelwertung in der Laiensphäre nachvollzieht, dass eine Beschäftigung vorliegt, die Bei­trags­pflicht nach sich zieht.

  2. Ein Schuldvorwurf ist nur dann gerechtfertigt, wenn sich dieser aus der persönlichen Urteils‑ und Kritikfähigkeit, dem Einsichtsvermögen und Verhalten des Verantwortlichen sowie nach den beson­de­ren Umständen des Einzelfalles ergibt.

Die Zurechenbarkeit eines bestimmten Verhaltens bzw. die Anknüpfung an bestimmte Rechtsfolgen erfordert im deutschen Rechtssystem das Vorliegen einer vorsätzlichen oder fahrlässigen Handlung. Ob bei der Prüfung der ›unverschuldete Unkenntnis‹ von der Zahlungspflicht auf den Verschuldens­maßstab des § 276 BGB Bezug zu nehmen ist, kann weder der Vorschrift des § 24 Abs. 2 SGB IV noch den Gesetzgebungsmaterialien entnommen werden. Soweit in der Literatur die Frage aufgeworfen wurde, ob erst Vorsatz die ›unverschuldete Unkenntnis‹ von der Zahlungspflicht ausschließt, ergab sich für die Einengung des Verschuldensmaßstabes bei der Anwendung des § 24 Abs. 2 SGB IV in der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts lange Zeit kein eindeutiger Anhaltspunkt. In der Praxis wurden Säumniszuschläge von den Rentenversicherungsträgern daher nicht nur bei einem vorsätz­lichen, sondern bereits bei einem grob fahrlässigen Handeln des Arbeitgebers erhoben.

Einheitlicher Regelungskomplex

Wie das Bundessozialgericht in seiner Grundsatzentscheidung vom 12. Dezember 2018 feststellte, ist der Verschuldensmaßstab des § 276 BGB bei der Prüfung der ›unverschuldeten Unkenntnis‹ von der Zahlungspflicht nicht maßgebend. Fahrlässigkeit grenzt sich vom Vorsatz dadurch ab, dass das ›Pro­dukt‹ der Handlung nicht beabsichtigt ist. Würde bereits fahrlässiges Verhalten die unverschuldete Unkenntnis ausschließen, bliebe »kaum ein denkbarer Anwendungsbereich« für die ›Härtefallregelung‹. Damit würde die Vorschrift des § 24 Abs. 2 SGB IV die vom Gesetzgeber eigentlich vorgesehene Wirkung als ›Korrektiv‹ verlieren, weil Säumniszuschläge auch in Fällen schlichter Rechtsirrtümer nachträglich zu erheben wären.

Für die rückwirkende Erhebung von Beiträgen bei Arbeitgebern gelten neben § 24 Abs. 2 SGB IV auch die Regelungen des § 25 Abs. 1 Satz 2 SGB IV über die Verjährung vorsätzlich vorenthaltener Beiträge und des § 14 Abs. 2 SGB IV über das bei illegalen Beschäftigungsverhältnissen zugrunde zu legende Arbeitsentgelt. Beide Vorschriften setzen zumindest bedingten Vorsatz voraus.

Das Bundessozialgericht vertritt die Auffassung, dass der § 24 Abs. 2 SGB IV zusammen mit § 14 Abs. 2 und § 25 Abs. 1 Satz 2 SGB IV einen einheitlichen Regelungskomplex bildet, mit der Folge, dass auch ein einheitlicher Haftungsmaßstabs anzusetzen ist. Da bei der Anwendung des § 14 Abs. 2 und des § 25 Abs. 1 Satz 2 SGB IV auf einen zumindest (be­ding­ten) Vorsatz abzustellen ist, gilt dies damit auch für die Prüfung der ›unverschuldeten Unkenntnis‹ von der Zahlungspflicht gemäß § 24 Abs. 2 SGB IV.

Verjährung der Beitragsansprüche → ›Bedingter‹ Vorsatz

Nettolohnfiktion → Tatbestandsvorsatz

Verschuldensprüfung (einheitlicher Regelungskomplex)
30‐jährige Verjährung Nettolohnfiktion Säumniszuschlagserhebung
↘ ↓ ↙

Es ist zumindest auf einen bedingten Vorsatz abzustellen

↙ ↓ ↘

Die 30‐jährige Verjährung greift ab dem Zeitpunkt, ab dem der Arbeitgeber eine Beitragspflicht zumindest für möglich gehalten und damit die Nichtabführung der Beiträge billigend in Kauf genommen hat.

Die Fiktion einer Nettolohnabrede greift nur bei einer insgesamt illegalen Beschäftigung und bei Hinterziehung von Steuern und Sozialversicherungs­beiträgen hinsichtlich der Arbeitsvergütung in einer ansonsten nach außen regulären Beschäftigung (Schwarzlohnvereinbarungen).

Schwarzlohnvereinbarungen

Säumniszuschläge sind dann zu erheben, wenn der Arbeit­geber eine unverschuldete Unkenntnis von der Zahlungs­pflicht nicht glaubhaft machen kann, er also eine Beitrags­pflicht zumindest für möglich gehalten und damit die Nicht­abführung der Beiträge billi­gend in Kauf genommen hat.

☆ ☆ ☆
Verschuldensmaßstab

Die für die Durchführung der Arbeitgeberprüfungen zuständigen Rentenversicherungsträger folgen der unmissverständlichen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts. Ein Verschulden ist damit nur dann anzunehmen, wenn dem Arbeitgeber zumindest bedingter Vorsatz vorzuwerfen ist. In Ermangelung anderer Maßstäbe ist bei der Feststellung des bedingten Vorsatzes im Sinne des § 24 Abs. 2 SGB IV auf die von der Lehre und den Sozialgerichten entwickelten Grundlagen für die Beur­teilung des Vorsatzes im Sinne der Verjährungsvorschrift des § 25 Abs. 1 Satz 2 SGB IV zurück­zu­greifen.

Verjährung der Beitragsansprüche → Bedingter Vorsatz

Bei einer unterlassenen Beitragsentrichtung handelt der Arbeitgeber bedingt vorsätz­lich, wenn er »eine Beitragspflicht für möglich gehalten und damit die Nichtabführung der Beiträge billigend in Kauf genommen hat«. Schlichte Berech­nungs­fehler und bloße versicherungs‑ sowie beitragsrechtliche Fehlbeurteilungen, die ebenfalls zu einer Nichtzahlung von Sozialversicherungsbeiträgen führen können, erfüllen den Tatbestand des bedingten Vorsatzes nicht.

Subjektiver Tatbestand des (bedingten) Vorsatzes

Arbeitgeber haben nach § 28a SGB IV Beschäftigte zu melden und nach § 28e SGB IV den Gesamt­sozialversicherungsbeitrag zu berechnen und an die Einzugsstelle zu zahlen. Wie das BSG feststellte, darf aber nicht das gesamte Risiko der Einordnung komplexer sozialversicherungsrechtlicher Wertungs­fragen den Arbeitgebern überantwortet werden, so dass sich Schematisierungen verbieten.

Um einen für die nachträgliche Erhebung von Säumniszuschlägen im Rahmen einer Sozialversiche­rungsprüfung erforderlichen zumindest bedingten Vorsatz bejahen zu können, darf das Vorliegen des dafür erforderlichen inneren (subjektiven) Tatbestandes nicht pauschal aufgrund allgemeiner recht­licher Erwägungen unterstellt werden, sondern ist anhand der konkreten Umstände des Einzelfalles und bezogen auf den betreffenden Beitragsschuldner durch Aufklärung des Sachverhaltes und unter sorg­fältiger Beweiswürdigung individuell zu ermitteln und im Beitragsbescheid darlegen.

Ein Schuld­vorwurf ist nur dann gerechtfertigt, wenn sich dieser aus der persönlichen Urteils‑ und Kritikfähigkeit, dem Einsichtsvermögen und Verhalten des Verantwortlichen sowie nach den beson­de­ren Umständen des Einzelfalles ergibt. Dem Arbeitgeber muss somit nachgewiesen werden, dass ihm die Beitrags­pflicht bekannt war oder er diese zumindest hätte erkennen müssen und damit die Beitragsabführung vorsätzlich umgangen bzw. die Nichtabführung billigend in Kauf genommen hat. Die Annahme des ›Eventualvorsatzes‹ ist umso näher, desto größer der Wahrscheinlichkeitsgrad hinsicht­lich der Tatbestandsverwirklichung ist.

Verjährung der Beitragsansprüche → Subjektiver Tatbestand des Vorsatzes

Zu beachtende Tatbestände
  • Nichtberücksichtigung früherer Beanstandungen aus Betriebsprüfungen.

  • Vorliegen eines betrieblichen Organisationsverschuldens.

  • Bewertung als komplexe sozialversicherungsrechtliche Wertungsfrage.

Nichtberücksichtigung früherer Beanstandungen aus Betriebsprüfungen

Durch einen wirksam bekanntgegebenen Beitragsbescheid erlangt der Arbeitgeber Kenntnis von seiner Zahlungspflicht. Beanstandungen aus früheren Betriebsprüfungen führen zur ›Bösgläubigkeit‹ des Arbeit­gebers und führen bei einer Nichtbeachtung zur Erhebung des Säumniszuschlags.

Grundsätzlich hat ein Rechtsbehelf gegen einen wirksam bekanntgegebenen Beitrags­bescheid keine aufschiebende Wirkung zur Folge. Ein wirksam bekanntgegebener Beitrags­bescheid im Sinne von § 28p Abs. 1 Satz 5 SGB IV muss daher auch bei einem Widerspruch oder einer an­schlie­ßen­den Klage durch den Beitragsschuldner bei der künftigen Lohn‑ und Gehaltsabrechnung beachtet wer­den. Lässt der Arbeitgeber als Beitragsschuldner die durch den wirksam bekannt­gegebenen Bei­trags­bescheid ein­ge­tretene Kenntnis von der Zah­lungs­pflicht unbeachtet, nimmt er damit die Nichtzahlung der fälligen Sozialabgaben billigend in Kauf und handelt insoweit mit bedingtem Vorsatz.

Ein Steuerberater, der das Wissen über die Kenntnis von der Zahlungspflicht in einer vorherigen Betriebsprüfung (auch bei einem anderen Mandanten) erlangt und keine Maßnahmen ergreift, um eine Regelkonformität durch Organisation der Strukturen und Prozesse sicherzustellen, kann in der gegen­wärtigen Betriebsprüfung in der Regel eine unverschuldete Unkenntnis nicht glaubhaft erscheinen las­sen.

Betriebliches Organisationsverschulden

Wechselt ein Arbeitgeber die Abrechnungsstelle, hat er der neuen Abrechnungsstelle die Besonder­heiten der Entgeltabrechnung mitzuteilen. Die Informationsverpflichtung gilt auch für Beanstan­dungen aus früheren Betriebsprüfungen, die der früheren Abrechnungsstelle und dem Arbeitgeber in einem Bescheid oder einer Prüfmitteilung mitgeteilt wurden. Dies gilt erst recht, wenn es innerhalb der Ent­geltabrechnung eines Arbeitgebers oder einer Abrechnungsstelle einen Zuständigkeitswechsel gibt oder neue Sachbearbeiter mit der Entgeltabrechnung betraut werden.

Betriebliches Organisationsverschulden

Es gehört zu den Arbeitgeberpflichten, vorhandene Organisationsmängel abzustellen und für eine geeig­nete Aufbau‑ und Ablauforganisation zu sorgen, damit die gesetzlichen Zahlungspflichten erfüllt und die im Rahmen einer Betriebsprüfung festgestellten Beanstandungen berücksichtigt werden.

Unverschuldete Unkenntnis von der Zahlungspflicht ist nicht glaubhaft gemacht, wenn dem Beitrags­schuldner ein Organisationsverschulden nachgewiesen werden kann. Organisationsverschulden ist im Deliktsrecht die Haftung wegen der Verletzung von Organisationspflichten oder wegen Nichterfüllung recht­licher Anforderungen an betriebliche organisatorische Maßnahmen. In den typischen Anwen­dungs­fällen wird damit ein organisationsbedingter Fehler eines Arbeitnehmers dem Arbeitgeber ange­lastet.

Der Beitragsschuldner (Arbeitgeber) haftet auch für jedes vorsätzliche Verhalten seiner Erfüllungs­gehilfen, als hätte er selbst gehandelt. Erfüllungsgehilfe ist, wer mit Wissen und Wollen des Schuldners bei der Erfüllung einer dem Schuldner obliegenden Verbindlichkeit tätig wird. Unerheblich ist dabei das zwischen dem Arbeitgeber und dem Erfüllungsgehilfen bestehende Rechtsverhältnis. Erfüllungsgehilfe kann damit auch derjenige sein, der in seinem Verhalten keinem Weisungsrecht des Schuldners un­ter­liegt.

Ist eine juristische Person des Privatrechts (z. B. GmbH) Beitragsschuldnerin, kommt es zu­nächst auf die Kenntnis oder unverschuldete Unkenntnis von der Beitragspflicht zumindest eines Or­ganmitgliedes an. Wissen und Verschulden eines vertretungsberechtigten Organmitglieds ist als das­jenige des Organs anzusehen und damit auch der juristischen Person zuzurechnen.

Das gleiche gilt für andere zum Vertreter der juristischen Person bestellte natürliche Personen, sofern sie eigenverantwortlich mit der sozialversicherungsrechtlichen Bewertung einer Tätigkeit für die juris­tische Person und der Erfüllung ihrer Zahlungspflicht betraut sind.

Auch die Kenntnis und das Verschulden weiterer im Rahmen einer betrieblichen Hierarchie verant­wortlicher Personen kann der betroffenen juristischen Person zuzurechnen sein, wenn keine Organisa­tionsstrukturen geschaffen wurden, um entsprechende Informationen aufzunehmen und intern weiter­zugeben.

Bei Körperschaften des öffentlichen Rechts schließt das Außerachtlassen ausreichender organisato­ri­scher Vorkehrungen (sogenanntes Organisationsverschulden) eine unverschuldete Unkenntnis im Sin­ne von § 24 Abs. 2 SGB IV aus. Das Fehlen notwendiger organisatorischer Maßnahmen bedingt, dass sich die Organisation das Wissen einzelner Mitarbeiter zurechnen lassen muss.

Gesetzlich geregelte Vertragstypen (BGB) → Betriebliches Organisationsverschulden

Komplexe sozialversicherungsrechtliche Wertungsfragen

Wie das Bundessozialgericht feststellte, darf nicht das gesamte Risiko der Einordnung komplexer sozial­versicherungsrechtlicher Wertungsfragen den Arbeitgebern überantwortet werden.

Ein Instrument für die Klärung von Zweifelsfragen hinsichtlich des sozialversicherungsrechtlichen Sta­tus und damit zur Schaffung von mehr Vorhersehbarkeit und Rechtssicherheit ist das im Jahr 1999 im Gesetz implementierte ›Anfrageverfahren‹. Zwar kann im Rahmen des bedingten Vorsatzes vor­werfbar sein, wenn ein Arbeitgeber bei Unklarheiten hinsichtlich der versicherungs‑ und beitrags­recht­lichen Beurteilung einer Erwerbstätigkeit darauf verzichtet, die Entscheidung einer fachkundigen Stelle herbeizuführen. Eine fahrlässig unterbliebene Einleitung eines Statusfeststellungsverfahrens nach § 7a SGB IV oder fehlende Herbeiführung einer Entscheidung der Einzugsstelle nach § 28h SGB IV schließt aber die unverschuldete Unkenntnis nicht von vornherein aus. Das fakultativ ausgestaltete Statusfeststellungsverfahren würde sonst – entgegen dem Gesetzeswortlaut des § 7a Abs. 1 Satz 1 SGB IV – faktisch obligatorisch sein.

Hegt der Arbeitgeber aber nachgewiesen Zweifel an dem Status einer Erwerbsperson, muss er diesen klären lassen. Andernfalls kann er sich nicht darauf berufen, diesen verkannt zu haben. Verzichtet er in diesem Fall darauf, sich beraten zu lassen und drängt sich das Vorliegen einer abhängigen Beschäf­tigung auf, können ihm die Folgen der fehlerhaften Beurteilung angelastet werden. Zweifel des Arbeitgebers an der sozialversicherungsrechtlichen Beur­teilung sind z. B. belegt, wenn der Arbeitgeber einen Clearingantrag zurücknimmt oder an dem Clearingverfahren nicht mitwirkt. Unverschuldete Unkenntnis kann der Arbeitgeber in diesen Fällen nicht mehr glaubhaft machen, mit der Folge, dass Säumniszuschläge zu erheben sind.

Verjährung der Beitragsansprüche → Das optionale Anfrageverfahren

Aufgrund der nunmehr eindeutigen Rechtsprechung zum sozialversicherungsrechtlichen Status von GmbH‐Gesellschafter‐Geschäftsführern dürfte es für den Arbeitgeber kaum möglich sein, für diesen Personenkreis eine unverschuldete Unkenntnis von der Zahlungspflicht glaubhaft zu machen.

Tätigkeiten → GmbH‐Gesellschafter‐Geschäftsführer

☆ ☆ ☆
Zeitraum der Säumniszuschlagserhebung

Säumniszuschläge sind nur für die Zeit nach der Fälligkeit der geschuldeten Beiträge zu erheben, in der keine unverschuldete Unkenntnis (mehr) vorliegt, der Beitragsschuldner also positive Kenntnis von seiner Zahlungspflicht oder seine Unkenntnis verschuldet hat.

Kenntnis von der Zahlungspflicht liegt dann vor, wenn der Arbeitgeber oder eine von ihm beauftragte Person, das sichere Wissen darum hat, rechtlich und tatsächlich zur Zahlung von Beiträgen verpflichtet zu sein. Das Wissen um die (bloße) Möglichkeit der Beitragserhebung steht dem sicheren Wissen um die rechtliche und tatsächliche Verpflichtung zur Beitragszahlung hingegen nicht gleich.

Zu beachten ist, dass auch ein anfänglich ›gutgläubiger‹ Beitragsschuldner z. B. durch Hinwei­se oder Bescheide eines Sozialversicherungsträgers ›bösgläubig‹ werden kann, mit der Konse­quenz, dass der Arbeitgeber sich ab diesem Zeitpunkt auf eine unverschuldete Unkenntnis von der Zahlungs­pflicht nicht mehr berufen kann.

Erkennt der Arbeitgeber einen Abrechnungsfehler und korrigiert diesen eigenständig lediglich für die Zukunft oder nur für einen Teil der Vergangenheit, hat er spätestens ab dem Zeitpunkt der vorge­nom­menen Abrechnungskorrekturen Kenntnis von seiner Zahlungspflicht.

Zu Unrecht erhobene Säumniszuschläge

Dem Rentenversicherungsträger obliegt im Rahmen eines Widerspruchs‑ oder Klageverfahrens die Prüfung, ob und inwieweit ein Bescheid über Säumniszuschläge zurückzunehmen ist, wenn der Arbeit­geber geltend macht, dass die Säumniszuschläge im Rahmen der Betriebsprüfung zu Unrecht erhoben wurden.

SVMWIndex k6s8a4

Schwarzarbeit und illegale Beschäftigung

Leitsatz
  1. Bei Schwarzarbeit und illegaler Beschäftigung ist regelmäßig davon auszugehen, dass der Beitragsschuldner Kenntnis von seiner Beitrags­schuld hatte und deshalb nicht unverschuldet im Sinne des § 24 Abs. 2 SGB IV war.

Eine illegale Beschäftigung begründet den Anfangsverdacht von Straftaten, die im Gesetz zur Be­kämpfung der Schwarzarbeit und illegalen Beschäftigung geregelt sind. Der Beitragsschuldner kann bei Schwarzarbeit und illegaler Beschäftigung regelmäßig keine unverschuldete Unkenntnis im Sinne des § 24 Abs. 2 SGB IV geltend machen.

Illegale Beschäftigung → Schwarzarbeit und illegale Beschäftigung

Nettolohnfiktion → Tatbestandsvorsatz

Direkter Vorsatz wird regelmäßig dann vorliegen, wenn für das gesamte ›typische‹ Arbeitsentgelt (z. B. bei Schwarzarbeit) überhaupt keine Beiträge entrichtet werden. Die vorsätzliche Nichtabführung von Arbeitnehmeranteilen am Gesamtsozialversicherungsbeitrag führt – ob bewusst aus Gründen der Ber­ei­cherung oder infolge von Liquiditätsproblemen – zur Erhebung von Säumniszuschlägen und hat darüber hinaus strafrechtliche Konsequenzen.

☆ ☆ ☆
Statusbewertungen

Die Säumniszuschläge auslösende Kenntnis von der Beitragspflicht liegt vor, wenn der Arbeitgeber die seine Beitragsschuld begründenden Tatsachen kennt und zumindest als Parallelwertung in der Laiensphäre nachvollzieht, dass eine Beschäftigung vorliegt, die Beitragspflicht nach sich zieht. Säumniszuschläge sind ab Eintritt der Kenntnis oder verschuldeten Unkenntnis von der Beitragspflicht zu erheben.

Statusbewertungen

Eine unverschuldete Unkenntnis von der Zahlungspflicht kann grundsätzlich nicht glaubhaft gemacht werden, wenn

  • Erwerbstätigkeiten ohne Anhaltspunkte von Gewicht für eine selbständige Tätigkeit bzw. Schwarzarbeit unter dem Deckmantel vermeintlich selbständiger Tätigkeiten vorliegen (dies schließt auch Mitteilungen der Finanzkontrolle Schwarzarbeit mit ein),

  • der Arbeitgeber Beanstandungen aus früheren Betriebsprüfungen nicht berücksichtigt hat,

  • der Arbeitgeber im Prüfzeitraum eine bestehende Beschäftigung abgemeldet hat, obwohl der Arbeitnehmer die bisherige Tätigkeit im Wesentlichen unverändert ausübt/ausübte,

  • identische Sachverhalte unterschiedlich behandelt wurden und eine Entscheidung eines So­zi­alversicherungsträgers über eine selbständige Tätigkeit nicht vorliegt.

☆ ☆ ☆
Schwarzlohnvereinbarungen

Bei der Buchung von typischen Entgeltzahlungen außerhalb der Lohn‑/Gehaltsabrechnung ist zumin­dest ein bedingter Vorsatz gegeben, sodass die Nettolohnfiktion greift und Säumniszuschläge zu erhe­ben sind. Eine Schwarzlohnzahlung liegt vor, wenn ein Arbeitgeber seinen Beschäftigten zusätzlich zum Lohn/Gehalt Entgelt zahlt und dieses nicht über die Lohn‑ und Gehaltsabrechnung der Steuer‑ und Beitragspflicht unterwirft.

Illegale Beschäftigung → Schwarzlohnvereinbarungen

Einheitlicher Regelungskomplex (bedingter Vorsatz)
30‐jährige Verjährung Nettolohnfiktion Säumniszuschläge
ja
ja
ja

Bruttolohnprinzip → Nettolohnfiktion

Verjährung der Beitragsansprüche → 30‐jährige Verjährungsfrist

Bei Schwarzarbeit und illegaler Beschäftigung ist regelmäßig davon auszugehen, dass der Beitragsschuldner zu­min­dest bedingt vorsätzlich gehandelt hat.

SVMWIndex k6s8a5

Bestimmung der voraussichtlichen Höhe der Beitragsschuld

Leitsätze
  1. Die voraussichtliche Höhe der Beitragsschuld ist so zu bemessen, dass der Restbeitrag, der erst im Folgemonat fällig wird, so gering wie möglich bleibt.

  2. Säumniszuschläge sind nur dann zu erheben, wenn die voraussichtliche Höhe der Beitrags­schuld schuld­haft im Sinne des § 24 Abs. 2 SGB IV zu gering bemessen wurde.

Die Ermittlung der voraussichtlichen Beitragsschuld im Sinne des § 23 Abs. 1 Satz 2 SGB IV und die Anwendung der Vereinfachungsregelung des § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB IV sind Gegenstand der Prüfung nach § 28p Abs. 1 SGB IV.

Bei dem Terminus »voraussichtliche Höhe der Beitragsschuld« handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff. Es handelt sich dabei nicht um einen bloßen Abschlag, dessen Betrag in das Belieben des Arbeitgebers gestellt ist. Die voraussichtliche Höhe der Beitragsschuld ist so zu bemessen, dass der Restbeitrag, der erst im Folgemonat fällig wird, so gering wie möglich bleibt.

Nach § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB IV kann der Arbeitgeber, abweichend von der Regelung zur Bestimmung der voraussichtlichen Höhe der Beitragsschuld nach § 23 Abs. 1 Satz 2 SGB IV, den Gesamtsozial­ver­sicherungsbeitrag zum Fälligkeitstag in Höhe des Vormonatssolls der Echtabrechnung zahlen. Die Anwendung der Vereinfachungsregelung ist nicht mehr davon abhängig, dass regelmäßig Ände­rungen der Beitragsberechnung durch Mitarbeiterwechsel oder Zahlung variabler Entgeltbestandteile zu be­rücksichtigen sind.

Der Arbeitgeber kann aber grundsätzlich auch einen eigenen Berechnungsweg wählen. Die Parameter, nach denen die voraussichtliche Höhe der Beitragsschuld ermittelt wurde, hat er gemäß § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 10 BVV zu dokumentieren. Wird der vom Arbeitgeber praktizierte eigene Berechnungsweg dem gesetzgeberischen Ziel nach einer möglichst genauen Ermittlung der voraussichtlichen Höhe der Bei­trags­schuld gerecht, liegen keine Anhaltspunkte für die Erhebung von Säumniszuschlägen vor. Die bloße Differenz zwischen voraussichtlicher und tatsächlicher Beitragsschuld ist jedoch kein ausrei­chender Grund für die Erhebung von Säumniszuschlägen.

Säumniszuschläge sind nur dann zu erheben, wenn die voraussichtliche Höhe der Beitragsschuld schuldhaft im Sinne des § 24 Abs. 2 SGB IV zu gering bemessen wurde. Dies ist dann der Fall, wenn der eigene Berechnungsweg nicht dazu geeignet ist, dem gesetzgeberischen Ziel zu entsprechen.

Einheitlicher Regelungskomplex (bedingter Vorsatz)
30‐jährige Verjährung Nettolohnfiktion Säumniszuschläge
ja
nein
ja

Dreißigjährige Verjährung → Bedingter Vorsatz

Voraussichtliche Höhe der Beitragsschuld → Zwei Alternativmöglichkeiten

Nur wenn der Arbeitgeber einen eigenen Berechnungsweg wählt, der nicht dazu geeignet ist, dem gesetzgeberischen Ziel zu entsprechen, liegt ein bedingt vorsätzliches Handeln nahe.

SVMWIndex k6s8a6

Auswertung eines Lohnsteuerhaftungsbescheides

Leitsatz
  1. Eine nicht zeitnahe beitragsrechtliche Auswertung eines Lohnsteuerhaftungsbescheides führt regelmäßig zur Erhebung von Säumniszuschlägen.

Da das Beitragsrecht der Sozialversicherung dem Steuerrecht grundsätzlich folgt, lösen Steuer­pflich­ten, die auf Grundlage eines Lohnsteuerhaftungsbescheides festgesetzt werden, regelmäßig auch die Verpflichtung des Arbeitgebers aus, zeitnah den Lohnsteuerhaftungsbescheid beitragsrechtlich aus­zu­werten. Dies gilt auch für den Fall, dass die Steuerbehörde eine Forderung nicht personen­bezogen festgestellt hat.

Entgelt im Sinne des SV‐Rechts → Weitgehende Übereinstimmung mit den Regelungen des Steuerrechts

☆ ☆ ☆
Auswertung innerhalb von 3 Monaten

Wertet der Arbeitgeber den Lohnsteuerhaftungsbescheid sozialversicherungsrechtlich nicht innerhalb von 3 Monaten nach dessen Rechtskraft aus und führt die anfallenden Sozialversicherungsbeiträge ab, wird ihm dies als (bedingt) vorsätzliches Handeln ausgelegt. Dies hat zur Folge, dass der Prüfer zu­sätzlich zur Beitragsforderung Säumniszuschläge erheben muss.

Ist dem Arbeitgeber eine Auswertung allein nicht möglich kann der Arbeitgeber sich an eine Einzugs­stelle oder an den für die Durchführung der turnusmäßigen Betriebsprüfung zuständigen Rentenver­siche­rungsträger wenden.

Verschuldensprüfung → Subjektiver Tatbestand des (bedingten) Vorsatzes

Auswertung innerhalb von 3 Monaten (Säumniszuschläge)

Der Anspruch auf die Beiträge ist bereits verjährt.

ja→

Kein beitragspflichtiges Entgelt

nein↓  

Eine Auswertung des Lohnsteuerhaftungsbeschei­des kann nur durch den Rentenversicherungsträ­ger über einen Summenbeitragsbescheid erfolgen. Nimmt der Arbeitgeber nicht zeitnah Kontakt auf, erhebt der Rentenversicherungsträger Säumnis­zuschläge ab dem Monat, der dem Monat der Rechtskraft des Lohnsteuerhaftungsbescheides folgt (Stichtagregelung).

Die beitragspflichtigen Entgelte können einzelnen Beschäftigten zugeordnet werden.

nein→
ja↓  

Der Arbeitgeber wertet den Bescheid innerhalb von drei Monaten nach dessen Bestandskraft aus und weist die Beiträge bei der zuständigen Einzugsstelle nach.

nein→

Der Rentenversicherungsträger erhebt Säumnis­zuschläge ab dem Monat, der dem Monat der Rechtskraft des Lohnsteuerhaftungsbescheides
folgt (Stichtagregelung).

ja↓  

Keine Säumniszuschläge

 
Ereignisfrist (Fristberechnung)

Für die Berechnung der Frist gelten die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs entsprechend. Da es sich um eine ›Ereignisfrist‹ handelt, ist für die Berechnung der Frist der § 187 Abs. 1 BGB in Verbindung mit § 188 Abs. 2 BGB maßgebend. Für die Fristberechnung ordnet § 187 Abs. 1 BGB im Bezug auf die Ereignisfrist an, dass der Tag, in dessen Verlauf das Ereignis fällt, nicht mitzuzählen ist. Fristbeginn ist stets der Anfang (0:00 Uhr) des Folgetages. Eine Frist, die nach Wochen, nach Monaten oder nach einem mehrere Monate umfassenden Zeitraum bestimmt ist, endet im Falle des § 187 Abs. 2 BGB mit dem Ablauf desjenigen Tages der letzten Woche oder des letzten Monats, welcher dem Tage vorhergeht, der durch seine Benennung oder seine Zahl dem Anfangstag der Frist entspricht.

Beispiel

Lohnsteuer‐Haftungsbescheid:   01.06.2023

Rechtskraft (Ereignis):                 01.07.2023

Fristbeginn:                                02.07.2023        um 00:00 Uhr

Fristende:                                   01.10.2023         um 24:00 Uhr

☆ ☆ ☆
Erhebung von Säumniszuschlägen

Wie das Bundessozialgericht feststellte, ist bei der Beurteilung der Frage, ob aufgrund der Nicht­auswertung eines Bescheides des Finanzamtes (Lohnsteuerhaftungsbescheid) bedingter Vorsatz im Sinne des § 25 Abs. 1 Satz 2 SGB IV unterstellt werden kann, eine differenzierte, auf den Einzelfall bezogene Betrachtungsweise vorzunehmen.

Von einem vorsätzlichen Handeln ist grundsätzlich dann auszugehen, wenn der Arbeitgeber den Lohnsteuer­haftungsbescheid beitragsrechtlich nicht ausgewertet hat, obwohl er bereits im Rahmen einer Vor­prüfung explizit auf seine Auswertungspflicht hingewiesen wurde. In derartigen Fällen wird sich der Arbeitgeber in der Regel ein sogenanntes ›Organisationsverschulden‹ vorwerfen lassen müs­sen.

Organisationsverschulden → Compliance‐Management‐System

Ein vorsätzliches Handeln liegt zudem nahe, wenn Beiträge für verbreitete ›Neben­leistungen‹ zum Arbeitsentgelt nicht gezahlt werden und zwischen steuer‑ und beitragsrechtlicher Behandlung eine bekannte oder ohne Weiteres erkennbare Übereinstimmung besteht.

Dem gegenüber muss der Vorsatz bei wenig verbreiteten Nebenleistungen, bei denen die Steuer‑ und die Beitragspflicht in komplizierten Vorschriften geregelt sind und nicht voll überein­stimmen, eingehend geprüft und fest­gestellt werden. Fehler bei der Beitrags­entrichtung dürften in diesen Fällen nicht selten nur auf fahrlässiger Rechts­unkenntnis beruhen, zumal wenn es sich um kleine Betriebe handelt, bei denen der Arbeitgeber die Beitragsberechnung ohne Fachpersonal selbst vornimmt. Lässt der Arbeitgeber jedoch die Abrechnung der Löhne und Gehälter durch fachkundiges eigenes Personal oder durch fachkundige Dritte (z. B. Steuerberater) vornehmen, liegt auch hier ein bedingter Vorsatz nahe.

Bedingter Vorsatz (Fallkonstellationen)

Bei einer Nichtauswertung ist in folgenden Fallkonstellationen grundsätzlich von bedingtem Vorsatz auszugehen:

  • Es handelt sich um typisches Arbeitsentgelt bzw. um eine weit verbreitete Nebenleistung zum Arbeitsentgelt (Besonderheiten einer Region oder einer bestimmten Branche sind zu beachten).

  • Zwischen steuer‑ und beitragsrechtlicher Behandlung besteht eine bekannte oder ohne Weiteres erkennbare Übereinstimmung.

  • Die Abrechnung der Löhne und Gehälter erfolgt durch fachkundiges eigenes Personal oder durch fachkundige Dritte (z. B. Steuerberater).

  • Der Arbeitgeber wurde bereits in einer vorherigen Sozialversicherungsprüfung darauf hin­gewiesen, dass er den Haftungsbescheid auszuwerten hat.

  • Der Arbeitgeber ist durch entsprechende Hinweise bösgläubig geworden.

☆ ☆ ☆
Zeitraum der Säumniszuschlagsberechnung

Ist der Arbeitgeber nicht schon vorher bösgläubig gewesen, steht der Beginn der Säumniszuschlags­berechnung in unmittelbarem Zusammenhang mit der Rechtskraft des Bescheides. Die Berechnung der Säumniszuschläge beginnt dabei mit dem Monat, der dem Monat der Rechtskraft des Lohnsteuer­haftungsbescheides folgt (Stichtagregelung).

Säumniszuschläge werden vom Zeitpunkt der Fälligkeit des Beitragsanspruchs bis zur Schlussbe­spre­chung erhoben. Die Berechnung von Säumniszuschlägen endet in Abhängigkeit von der Schluss­be­sprechung. Erfolgte die Schlussbesprechung vor dem Fälligkeitstag für diesen Monat, endet die Säum­nis­zuschlagsberechnung mit dem Monat vor der Schlussbesprechung.

Fälligkeit der Beitragszahlung → Fälligkeitstermine für die Beitragszahlung (Übersicht)

Sofern der Arbeitgeber keine Verzögerungen zu verantworten hat, darf die Dauer des anschließenden Verwaltungsverfahrens bis zur Erteilung des Bescheides nicht zu Lasten des Arbeitgebers gehen.

Beispiel 1

Lohnsteuerprüfbericht vom:                19.07.2019

Eintritt der Rechtskraft:                      19.08.2019

Schlussbesprechung der SV‐Prüfung:  31.08.2023

Bewertung:

Fälligkeit im August 2023:                 29.08.2023

Fälligkeit der Beitragszahlung → Fälligkeitstermine für die Beitragszahlung

Die Schlussbesprechung erfolgte nach dem Fälligkeitstag für die August‐Beiträge 2023.

Säumniszuschlagserhebung: 01.09.2019 bis 31.08.2023

Beispiel 2

Lohnsteuerprüfbericht vom:                19.07.2019

Eintritt der Rechtskraft:                      19.08.2019

Schlussbesprechung der SV‐Prüfung:  22.08.2023

Bewertung:

Fälligkeit im August 2023:                 29.08.2023

Die Schlussbesprechung erfolgte vor dem Fälligkeitstag für die August‐Beiträge 2023.

Fälligkeit der Beitragszahlung → Fälligkeitstermine für die Beitragszahlung

Säumniszuschlagserhebung: 01.09.2019 bis 31.07.2023

Zu beachten ist, dass auch ein anfänglich ›gutgläubiger‹ Beitragsschuldner z. B. durch Hinweise oder Bescheide eines Sozialversicherungsträgers ›bösgläubig‹ werden kann, mit der Konsequenz, dass der Arbeitgeber sich ab diesem Zeitpunkt auf eine unverschuldete Unkenntnis von der Zahlungspflicht nicht mehr berufen kann. Ist zwischenzeitlich eine ›Bösgläubigkeit‹ eingetreten, erfolgt die Säumnis­zuschlagsberechnung ab diesem Zeitpunkt.

Beispiel

Sozialversicherungsprüfung im Juli 2023

Vierjähriger Prüfzeitraum: 2019 bis 2022

Nachforderungen für Januar bis Dezember 2019

Prüfbericht vorherige SV-Prüfung vom 26.02.2019

Eintritt der Rechtskraft: 26.03.2019

Nachforderungen für Januar bis Dezember 2018

Die Nachforderungen betrafen einen identischen Sachverhalt

Schlussbesprechung der SV‐Prüfung am 21.07.2023

Bewertung:

Die Schlussbesprechung erfolgte vor dem Fälligkeitstag für die Juli‐Beiträge 2023.

Fälligkeit im Juli 2023:                 27.07.2023

Fälligkeit der Beitragszahlung → Fälligkeitstermine für die Beitragszahlung

Da die Nachforderungen einen Sachverhalt betreffen, der bereits im Rahmen der SV-Prüfung vom 26.02.2019 beanstandet wurde, kann der Arbeitgeber eine unver­schuldete Unkenntnis von seiner Zahlungspflicht ab dem Zeitpunkt der Bindungswirkung der Prüfbescheides nicht mehr geltend machen. Es sind daher Säum­nis­zuschläge für den Zeitraum vom 01.04.2019 bis 30.06.2023 im Rahmen der monatlichen Fälligkeit zu erheben.

Monatliche Fälligkeit (keine Stichtagregelung)

Vom Arbeitgeber übernommene Lohnsteuer

Für Lohnsteuern, welche nach den individuellen, das heißt persönlichen Besteuerungsmerkmalen der Lohnsteuerkarte berechnet werden, ist nach § 38 Abs.2 EStG der Arbeitnehmer Schuldner der Lohn­steuer. Die Lohnsteuer entsteht in dem Zeitpunkt, in dem der Arbeitslohn dem Arbeitnehmer zufließt. Wird durch eine Lohnsteueraußenprüfung individuell zu versteuernder Arbeitslohn festgestellt, ergibt sich deshalb aus der Übernahme der personenbezogenen Lohnsteuer durch den Arbeitgeber und des damit einhergehenden Verzichts der Rückforderung vom Arbeitnehmer ein geldwerter Vorteil, der bei­tragspflichtig ist.

Ist der Arbeitgeber bereit, die Steuerabzugsbeträge, die auf den bisher nicht versteuerten Arbeitslohn entfallen, zu übernehmen, fällt mit der Zahlung der nachgeforderten Beträge durch den Arbeitgeber an das Finanzamt somit weiterer Arbeitslohn beim Arbeitnehmer an.

Soweit ein Arbeitgeber nachträglich durch entsprechende Erklärung gegenüber der Finanzverwaltung die Übernahme der auf einen Arbeitnehmer entfallende Individualsteuer übernimmt, entsteht der geld­werte Vorteil für den beschäftigten Arbeitnehmer im Zeitpunkt der Erklärung gegenüber der Finanz­verwaltung oder bei fehlender Erklärung im Zeitpunkt der tatsächlichen Zahlung an die Finanzver­waltung.

Die übernommene Lohnsteuer stellt einmalig gezahltes Arbeitsentgelt im Sinne des § 23a SGB IV dar, weil diese Leistung nicht für die Arbeit in einem einzelnen Entgeltabrechnungszeitraum gewährt wird. Nach § 22 Abs.1 Satz 2 SGB IV entstehen die Beitragsansprüche für einmalig gezahltes Arbeitsentgelt, sobald dieses ausgezahlt worden ist (Zuflussprinzip). Infolgedessen ist der geldwerte Vorteil für die übernommene Lohnsteuer dem Entgeltabrechnungszeitraum zuzuordnen, in dem der Arbeitgeber die Lohnsteuer tatsächlich übernommen hat. Bei zwischenzeitlich beendeten Beschäftigungsverhältnissen kann es damit sein, dass sich für die übernommene Lohnsteuer keine Beitragspflicht mehr ergibt. Er­folgt die Übernahme der Lohnsteuer erst nach dem 31. März und das Beschäftigungsverhältnis ende­te bereits im Vorjahr, können keine Sozialversicherungsbeiträge mehr erhoben werden.

Auf die übernommenen Steuern können Säumniszuschläge erst ab dem Zeitpunkt erhoben werden, zu dem der Arbeitgeber die Übernahme der Steuern gegenüber der Finanzverwaltung erklärt oder durch Zah­lung tatsächlich vorgenommen hat.

☆ ☆ ☆
30‐jährige Verjährungsfrist

Hat der Arbeitgeber den Lohnsteuerhaftungsbescheid nicht oder nicht zeitnah ausgewertet, nimmt der Prüfer die Auswertung im Rahmen der turnusmäßig durchzuführenden Betriebsprüfungen vor.

Eine anfänglich vorhandene Gutgläubigkeit begründet keinen Vertrauensschutz, wenn nach Fälligkeit, aber noch vor Ablauf der kurzen Verjährungsfrist Vorsatz hinzutritt. Hat der Beitragsschuldner bei Eintritt der Fälligkeit keinen Vorsatz zur Vorenthaltung, läuft zwar zunächst von Beginn des folgenden Kalenderjahres an eine vierjährige Verjährungsfrist. Diese verlängert sich jedoch durch eine rückwir­kende Umwandlung in die 30‐jährige Verjährungsfrist, wenn der Beitragsschuldner noch vor Ablauf der vierjährigen Verjährungsfrist bösgläubig wird.

30‑jährige Verjährungsfrist → Subjektiver Tatbestand des Vorsatzes

Die Annahme der dreißigjährigen Verjährung ist in diesem Zusammenhang so zu verstehen, dass der Arbeitgeber (bzw. der Prüfer) den Bescheid der Finanzbehörde über den eigentlichen 4‐jährigen Prüf­zeitraum hinaus auch für Zeiten auszuwerten hat, für die zum Zeitpunkt der Bindungswirkung des Bescheides der Finanzverwaltung die 4‐jährige Verjährungsfrist noch nicht abgelaufen ist.

Beispiel:

Sozialversicherungsprüfung:    18.11.2023

Vierjähriger Prüfzeitraum: 2019 bis 2022

Rechtskraft Prüfbericht der Finanzverwaltung: 25.05.2019

Steuernachforderungen: 2015 bis 2019

Eine beitragsrechtliche Auswertung des Lohnsteuerhaftungsbescheides erfolgt erst im Rahmen der Sozialversicherungsprüfung.

Bewertung:

Der Arbeitgeber ist im Mai 2019 ›bösgläubig‹ geworden und hätte den Lohnsteuerbescheid beitragsrechtlich auswerten müssen. Zu diesem Zeitpunkt waren die Beiträge für die Jahre 2015 und 2016 noch nicht verjährt. Da keine Auswertung erfolgte, wurden die Sozialversiche­rungs­beiträge bedingt vorsätzlich vorenthalten.

Da die Verjährung der Sozialversicherungsbeiträge für die Jahre 2015 und 2016 bei Erlass des Prüfberichtes der Finanzverwaltung im Mai 2019 noch nicht eingetreten war, wird der Prüf­zeitraum für die Auswertung des Lohnsteuer‐Prüfberichtes auf die Jahre 2015 und 2016 ausgedehnt und entsprechende Sozialversicherungsbeiträge im November 2023 im Rah­men der Verjährungsvorschrift des § 25 Abs. 1 Satz 2 SGB IV nachgefordert.

Fälligkeit der Beitragszahlung → 30‐jährige Verjährungsfrist

☆ ☆ ☆
Auswertung von Entscheidungen anderer Behörden

Auch für die versicherungs‑ und beitragsrechtliche Auswertung von Entscheidungen anderer Behörden oder vorgelegten Unterlagen ist dem Arbeitgeber als Beitragsschuldner eine angemessene Bearbei­tungsfrist einzuräumen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass eventuell weitergehende Rückfragen erfor­derlich sein können, unvollständige Angaben ergänzt werden müssen und der zuständige Bearbeiter die Rechtslage klären muss. Das Bundessozialgericht hält regelmäßig eine Frist von mindestens sechs Wochen für angemessen.

☆ ☆ ☆
Arbeitsgerichtliche Entscheidungen

Die Arbeitsgerichte sind zuständig in allen bürgerlich‐rechtlichen Streitigkeiten zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber sowie für die Streitigkeiten zwischen den Tarifvertragsparteien. Der Kündigungsschutz im Arbeitsrecht wird in Deutschland durch eine Kündigungsschutzklage beim zuständigen Arbeitsge­richt verfolgt. In der Regel geht es dem Arbeitnehmer bei einer Kündigungsschutzklage darum Gehalt einzufordern und um die Feststellung der Unwirksamkeit der vom Arbeitgeber ausgesprochenen Kün­digung.

Führt eine rechtskräftige arbeitsgerichtliche Entscheidung zur Nachzahlung von beitragspflichtigem Arbeits­entgelt und hat der Arbeitgeber es unterlassen, Beiträge abzuführen, sind Säumniszuschläge zu erheben. Da der Arbeitgeber selbst Partei in dem Verfahren und Adressat der arbeitsgerichtlichen Ent­scheidung ist, kann er eine unverschuldete Unkenntnis von der Zahlungspflicht nicht geltend machen.

Einheitlicher Regelungskomplex (bedingter Vorsatz)
30‐jährige Verjährung Nettolohnfiktion Säumniszuschläge
ja
j
n
ja

Bruttolohnprinzip → Nettolohnfiktion

Dreißigjährige Verjährung → Bedingter Vorsatz

Handelt es sich bei den Lohnsteuernachforderungen um Sachverhalte der Schwarzarbeit oder illegalen Beschäftigung greift neben der 30‐jährigen Verjährung auch die Nettolohnfiktion.

Prüfverfahren → Schwarzarbeit und illegale Beschäftigung

SVMWIndex k6s8a7

Nichtbeachtung des gesetzlichen oder tarifvertraglichen Mindestlohns

Leitsatz
  1. Aus dem Grundsatz der formellen Publizität von Normen folgt, dass sich der Arbeitgeber auf eine etwaige fehlende Kenntnis von Gesetzen oder einer Allgemeinverbindlichkeits­erklärung grundsätzlich nicht berufen kann.

Bei dem tariflichen und dem gesetzlichen Mindestlohnanspruch handelt es sich um eine Bruttoentgelt­schuld des Arbeitgebers. Der Arbeitgeber erfüllt einen Bruttoentgeltanspruch, wenn er den sich daraus ergebenden Auszahlungsbetrag (›Nettoverdienst‹) an den Arbeitnehmer zahlt sowie die darauf anfal­lende Einkommensteuer und den Arbeitnehmeranteil des Gesamtsozialversicherungsbeitrags an die zuständigen Stellen abführt.

Erreicht die vom Arbeitgeber zu zahlende Bruttovergütung den zu beanspruchenden Mindestlohn nicht, begründet dies aufgrund des Entstehungsprinzips für die gesetzlichen Sozialversicherungsträger einen Beitragsanspruch auf die dem Arbeitnehmer zustehende Differenzvergütung.

Fälligkeit der Beitragszahlung → Entstehungsprinzip für laufendes Arbeitsentgelt

Grundsatz der formellen Publizität

Es dürfen keine unzumutbaren Schwierigkeiten bestehen, vom geltenden Recht Kenntnis zu erlangen. Die Publizität, das heißt die öffentliche Kundgabe staatlicher Akte, vor allem durch die Ausfertigung und die Verkündung von Rechtsnormen (Gesetze und Verordnungen), dient der Orientierungssicher­heit. Auch die Aufhebung von Rechtsnormen ist daher zu publizieren.

Das Gesetz zur Regelung eines allgemeinen Mindestlohns (Mindestlohngesetz – MiLoG) vom 11. August 2014 wurde am 15. August 2014 im Bundesgesetzblatt Jahrgang 2014 Teil I Nr. 39 bekannt gegeben. Nach dem Grundsatz der formellen Publizität gelten Gesetze mit ihrer Verkündung im Bundesgesetz­blatt allen Normadressaten als bekannt, ohne Rücksicht darauf, ob und wann der Arbeitgeber tat­sächlich Kenntnis davon erhalten hat.

Die Allgemeinverbindlichkeitserklärung ist im Verhältnis zu den Arbeitgebern und Arbeitnehmern, die ohne diese Erklärung nicht tarifgebunden wären, ein Rechtsetzungsakt eigener Art zwischen autono­mer Regelung und staatlicher Rechtsetzung, der seine eigenständige Rechtsgrundlage in Art. 9 Abs. 3 Grundgesetz findet. Auch die Allgemeinverbindlichkeitserklärung muss öffentlich bekannt gegeben wer­den.

Ein Arbeitgeber hat dafür Sorge zu tragen, dass er laufend über die Geltung eines für seinen Betrieb maßgebenden Tarifvertrages informiert ist. Er hat sich auch regelmäßig über eventuelle tarifrechtliche Änderungen zu informieren. Hat das für die Allgemeinverbindlichkeitserklärung vorgesehene Veröffent­lichungs‑ und Doku­men­tationsverfahren stattgefunden, können sich auch ›Außenseiter‹ gewöhnlich ohne Weiteres über das geltende Tarifrecht informieren.

Aus dem Grundsatz der formellen Publizität von Normen folgt, dass sich der Arbeitgeber auf eine etwaige fehlende Kenntnis von Gesetzen oder einer Allgemeinverbindlich­keitserklärung grundsätzlich nicht berufen kann. Bei einer Unterschreitung des gesetzliche Mindes­tlohn oder eines für allge­mein­verbindlich erklärten tariflichen Mindestlohns liegt deshalb regelmäßig ein bedingter Vorsatz nahe. Allerdings ist in jedem Einzelfall zu prüfen, ob die Unterschreitung des Mindestlohns im Zusammen­hang mit ›schwierigen Rechtsfragen‹ eingetreten ist.

Mindestentgelt → Allgemeinverbindlicher Tarifvertrag

Mindestentgelt → Mindestlohnanspruch (Beurteilungsschema)

Schwierige Rechtsfragen

Eine unverschuldete Unkenntnis von der Zahlungspflicht kann unter weiteren Umständen glaubhaft gemacht werden, wenn

  • es um die Frage geht, welche Leistungen auf den Mindestlohn bzw. auf die Lohnunter­gren­zen anzurechnen sind,

  • nicht von vornherein eindeutig ist, ob der geprüfte Arbeitgeber unter den betrieblichen Gel­tungs­bereich des Tarifvertrags fällt,

  • nicht eindeutig geklärt ist, ob bestimmte Personenkreise unter den persönlichen Gel­tungs­bereich der maßgeblichen Regelungen fallen,

  • einzelne Normen unterschiedliche Rechtsauslegungen zulassen.

Tatbestandsvorsatz → Subjektiver Tatbestand des Vorsatzes

Einheitlicher Regelungskomplex (bedingter Vorsatz)
30‐jährige Verjährung Nettolohnfiktion Säumniszuschläge
ja
nein
ja

Dreißigjährige Verjährung → Bedingter Vorsatz

Unterschreitung des Mindestlohns

Bei Beitragsnachforderungen, die auf einer Unterschreitung der Mindestlöhne bzw. der Lohn­untergrenzen nach

beruhen, kann vom Arbeitgeber grundsätzlich keine unverschuldete Unkenntnis glaubhaft gemacht wer­den.

Bei dem gesetzlichen und den tarifvertraglichen Mindestlohnansprüchen handelt es sich um Brutto­lohnansprüche, sodass bei einer Unterschreitung nicht die Nettolohnfiktion greift, sondern das Entgelt lediglich bis zum maßgebenden Mindestlohnanspruch aufzufüllen ist.

SVMWIndex k6s8a8